Carlos Ferrer

Faszination Leid

Dornenkrone (Foto: Werner Näf)

Wir scheinen fasziniert vom Leid. Dem anderer und unserem eigenen. Leid berührt uns, ändert uns. Karfreitagspredigt in Zuchwil.
Carlos Ferrer,
Das Leiden der Menschen in unserer Mitte, vor unseren Toren, auch das Leiden von Menschen in der Ferne berührt uns. Nicht nur weil wir Photo’s davon sehen … Das Leiden der Menschen berührt uns.

Sei es der Schrei von Edward Munch oder Banksy’s Graffiti einer Frau die eine Fliegerbombe liebend umarmt, menschliches Leiden lässt uns nicht unberührt. Wir sind fasziniert davon, entsetzt, leiden mit oder finden es gar nachahmungswert.

Der Leid fasziniert uns, hält uns gefangen, wie das Licht den Falter in der Dunkelheit. Für die Einen, ein Weg die eigene Trauer und den Schmerzen zu verarbeiten. Für andere, Gefühle hervorzurufen, die Mobil machen, die zur Aktion zugunsten (oder Lasten) anderer führen. Wie dem auch sei, manche finden im Leiden anderer einen Weg, ihr eigenes Leiden zum Wort zu bringen, andere schliessen sich ab vor solchen Gefühlen.

Karfreitag ist ein merkwürdiger Tag in unserer Religion. Wir Protestanten feiern das Abendmahl, bei den Katholiken wird die Eucharistie ausgelassen. Zur Sterbestunde Christi werden in den Kirchen laut liturgischem Gebrauch die Lichter in der Kirche ausgelöscht.

Für den jüdischen Glauben ist die Parallele wohl einerseits das Passahmahl, wo sie dessen gedenken, dass der Engel Gottes an den Türen der Vorfahren vorbeiging, um die Erstgeburten der Ägypter zu töten, in der Nacht bevor sie Ägypten endlich verlassen durften, wo sie versklavt wurden. Anderseits die grosse Versöhnungsfeier am Abend des Yom Kippur, wo deren, die nicht mehr unter uns sind, gedacht wird. Der Kanadier » Leonard Cohen hat dieses Gebet etwas provozierend dargelegt:

Wer durch Feuer
Wer durch Wasser
Wer in der Sonne
Wer in der Nacht
Wer als Strafe Gottes
Wer durch irdisches Gericht
Wer in den Wonnen des Mai
Wer durch Siechtum
Und wer - wer entscheidet das? (*)

Welche Frau, nur im Slip
Wer durch Schlafmittel
Wer in den Armen der Liebe
Wer durch dumpfen Schlag
Wer in einer Lawine
Wer durch Schießpulver
Wer für seine Habgier
Wer für seinen Hunger
Und wer - wer entscheidet das?

Wer durch mutige Zustimmung
Wer durch Unfall
Wer in Einsamkeit
Wer in diesem Spiegelbild
Wer auf Befehl seiner Geliebten
Wer durch eigene Hand
Wer in Todesketten
Wer als Mächtiger
Und wer - wer entscheidet das?

Menschliches Leiden lässt uns nicht unberührt. Es wir uns alle treffen.

Genau so sieht es der Koran. In seiner Meditation über Kains Mord an Abel, dem ersten Brudermord der Menschheit, die folgenden Gedanken:

wenn jemand einen Menschen tötet – es sei denn für (Mord) an einem andern oder für Gewalttat im Land -, so soll es sein, als hatte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so soll es sein, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten. Quran V, 51

Menschliches Leiden lässt uns nicht unberührt. Es verändert uns, sei es wegen unserem Mitleid, sei es wegen unseren Erinnerungen, sei es wegen unserer Gleichgültigkeit oder sei es wegen unser Brutalität und Lust, nachzuahmen. Menschliches Leiden ändert uns.

Unter dem Kreuze Christi steht ein Mann, ein Römer, ein Andersgläubiger. Er sticht mit seiner Lanze in den toten Leichnam Jesu. Er wird später Christ und leidet das Martyrium für seinen Glauben. Er wurde von diesem Tod eines Unschuldigen zutiefst betroffen. Neben dem Kreuze Christi stehen zwei andere. Die Bibel ist sich nicht einig. In zwei Evangelien schimpfen die beiden Räuber auf Jesus ein: Rette uns doch, wenn du der Christus bist. In einem Evangelium zeigt sich einer von beiden reumütig. Leiden lässt keinen Menschen unbetroffen.

Selbst in der Tierwelt bleiben überlebende manchmal bis zu ihrem eigenen Tod bei einem toten Partner stehen oder liegen. Leid lässt warmblütige Wesen nicht unberührt. Wir sind genetisch so programmiert.

Leid ist ein so schwerer Eingriff in unser Leben, dass wir manchmal einen Neuanfang brauchen. Manchmal genügt es nicht, sich selbst zu schütteln, wie es etwa ein Tier macht, nachdem es eine Gefahr überlebt hat. Manchmal genügt ein Tapetenwechsel nicht. Manchmal brauchen wir Antworten nach dem Sinn des ganzen. Manchmal wird unser Grundgefühl, unser Glaube in Mitleidenschaft gezogen. Menschliches Leiden lässt uns nicht unberührt.

Das Leid ist da, es ist eine Urkraft. Es ist Teil des Lebens. Es ist neutral, nicht böse, es ist halt. In dem wir Essen, Jagen, Fischen, Schlachten bereiten wir dem Tier Leid, welches wir gerade im Griff haben. Der Haifisch oder der Bär macht sich nicht schuldig, wenn er einen Menschen reisst, noch die Mücke, die uns mit Malaria ansteckt.

Damit stehen wir vor einer Alternative, mit der wir uns abfinden müssen. Leiden als Teil des Lebens ist sinnvoll. Wir empfinden es zwar als tragisch aber weil es natürlich ist, können wir es nicht verhindern. Es ist halt so. Die Frage nach gut und böse sind in dieser Hinsicht nur Ausdruck unseres Empfindens, angesichts dessen, dass das Leben und Sterben weh tun können.

Auf der anderen Seite steht Leiden als Resultat mutwilliger Gewalt. Solches hat keinen anderen Sinn als die Lust des Gewalttäters oder der Gewalttätigen zu erfüllen. Für alle andere ist diese Gewalt Unsinn. Für solches haben wir einen eigenen Wortschatz: Massenmord, Blutdurst, Gräuel, ethnische Säuberung, Kriegsverbrechen … die Liste ist lang. Ein Ausdruck menschlicher Geschichte im Umgang mit anderen Menschen, Tieren und der Umwelt.

Auch solches Leid verlangt danach, dass der Sinn geklärt wird. Warum lassen Menschen es zu, dass solche Verbrechen (unbestraft) begangen werden? Wo sind die Alliierten, wo ist Gott, wenn die Menschen auf den Strassen hingerichtet oder in ihren Kellern zerbombt werden?

Welchen Sinn wir herausholen können, holen wir aus unserer eigenen Gedanken- und Gefühlswelt heraus. Solch einen Sinn lesen wir in Geschehen ein, wie den Völkermord an den Armeniern oder die Shoah der Juden. Solch einen Sinn lesen wir in die tödliche Fluchtwellen im Mittelmeer oder die Raketen- und Artillerieangriffe in Mariupol, Kharkiv hinein. Vielleicht noch nicht heute, aber doch später, wenn die Wunden zu Narben verheilt sind. Das wird Zeit, Verständnis und Wiedergutmachung brauchen.

Ein Bild von Michel Ciry, Le Christ Resussité (Paris 1957), zeigt einen weissen, sehr mageren, westlichen, weissen Mann aus dem Grab steigen, weissen Banner in der Hand. Er hat eine grosse Nase, sieht etwas jüdisch aus. Ist es ein überlebender der Shoah? Oder nur ein Nachbar, den wir manchmal unterwegs ins coop begrüssten? Gibt sein Tod am Kreuz einen Sinn? Wir können’s versuchen. Zum Beispiel so:

«Er hat’s selbst verschuldet.»
«Er ist zwischen die Räder gefallen.»
«Man hat ihn erwischt, am falschen Ort zur falschen Zeit.»
«Wir haben’s versucht, dem ein Ende zu machen, aber waren zu schwach.»
«Wir haben nichts unternommen, um das aufzuhalten, wir hätten auch dran sein können.»

Und so stosst die dingfeste, unnötige Gewalt auf unser eigenes, Empfinden und Denken, und lässt uns nicht in Ruhe.

Von Gottes Sicht, nach reichlicher theologischer Erwägung kommt Paulus zu diesem Schluss, als er den Heiden die Gute Nachricht verkündete. Damit versuchte er dem ganzen einen Sinn zu geben:

19Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.

20So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! 21Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt. 2 Kor. 5

Das tönt wie Wortsalat, Unsinn. Wir haben nichts in den Worten, an dem wir uns halten können. «Gott hat die Welt mit sich versöhnt.» Gut und schön. Was bedeutet das für die Welt, die immer noch so tut, als ob es keinen Gotteswillen gibt? Die so tut, als ob sie nicht versöhnt werden will?

Denn so ist die Welt. Eine Welt wo eines das andere frisst, wo eines dem anderen Leid antut. Damit kann ich mich nur noch abfinden. Ich in meinem eigenen Leben, in meiner eigenen Haut, mit meinen eigenen Gedanken. Genau. So sind Gottes Worte der Versöhnung an mich gerichtet.

Nicht die Welt. Mich. Und dich. Ein Appell an die Menschlichkeit, das vergebende Wesen in uns. Wir können die Welt nicht ändern, wir können die verrohten Menschen, die aus lauter Blutgier und Masslosigkeit morden, höchstens in ihrer Masslosigkeit einengen und eingrenzen. In dem wir sagen: Genug! Und uns vor die Panzer stellen. Und Blumen in ihre Gewehrläufe stecken. Und uns von ihnen nicht einschüchtern lassen. Ihre «Wahrheiten» als Lügen blossstellen, ihre Politik abwählen und ihr Vorrücken verhindern.

Genau das braucht die Welt, genau das wird von uns verlangt: Botschafter und Gesandte Gottes sind wir, an Christi statt. Unsere Aufgabe ist es, zur Versöhnung und zum Frieden aufzurufen, und zwar die Menschen, unter denen wir leben.

Christus ist hingerichtet worden, wie es auch uns geschehen kann, denn die Welt kann brutal sein. Aber das ändert nichts daran, dass Gott uns in jedem Leid begegnet und mit uns Leidet. So wird klar:

Menschliches Leiden lässt niemanden, keinen Menschen und selbst Gott nicht unberührt! Wir können vielleicht keinen Sinn aus dem Leiden herausholen, aber wir können uns neben die Leidenden stellen, da wo auch Gott zu finden ist. So werde es. Amen.
Bereitgestellt: 18.04.2022      
aktualisiert mit kirchenweb.ch