Leiden - für andere?
Nicht jede oder jeder hält das aus, sich im Spiegel des Leidens eines Menschen anzusehen. Nicht jede oder jeder ist bereit, sich seinen oder ihren Dämonen zu stellen. Das Leiden Jesu Christi als "heilsamer Tod" eines Menschen für die ganze Menschheit? Wie kann ich das noch akzeptieren?
Carlos Ferrer,
Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken,
mich in das Meer der Liebe zu versenken,
die dich bewog, von aller Schuld des Bösen
uns zu erlösen. (Christian Fürchtegott Gellert 1757).
Ich habe keine Freude daran, Jesu Christi leiden zu bedenken. Ich kann mit dem Leid anderer Menschen nichts anfangen. Mir schauert schon, wenn andere von ihren Knochenbrüchen erzählen. Lange Zeit fühlte ich mich schuldig, als Jesu Leiden in meine Kirche zur Sprache kam, besungen und im Gebet genannt wurde. Das war fast immer, in jedem Gottesdienst.
Heute ist das Leid Christi Thema. Es hängt über meinem Kopf wie ein zweischneidiges Schwert. Einerseits das „Für mich“ anderseits das „Wegen mir“:
Nun, was du, Herr, erduldet,
Ist alles meine Last,
Ich hab es selbst verschuldet,
Was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer,
Der Zorn verdienet hat.
Gib mir, o mein Erbarmer,
Den Anblick deiner Gnad. (Paul Gerhardt 1656)
Wenn ich eine römisch-katholische Kirche besuche, sehe ich mir zuerst den Kreuzweg an. Dieser ist von Kirche zu Kirche anders. Jeder hält die schlimmsten 24 Stunden Jesu von Nazaret fest, und nicht nur in der Passionszeit. Was mir sagt, auf eindeutige weise: Schau, was Gott für dich getan hat. Sei dankbar und vergiss nicht deinen Platz … wage ich zu sagen "du Wurm"?
Es ist egal, ob du dich selbst schuldig gemacht hast oder nicht. Du hast das Böse in deiner DNA, geerbt durch deine Eltern, die es von ihren Eltern erbten und so weiter bis wir bei Eva ankommen. Sie ist schuld. Musste sie doch unbedingt den Apfel beissen. Cherchez la femme ! Deshalb musste unser Herr Jesus Christus die Schmach und den Tod leiden … mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.
Ich weiß schon lange: Diese Rechnung ist nicht tragbar. Ich finde, das kann so nicht stimmen.
Ja, ich bin ein brüchiges Wesen. Ja, sogar Gewalt steckt in mir, besonders unter Gruppenzwang. Fällt es manchmal leichter, andere zu manipulieren als sie zu beschützen, aufzunehmen und befreunden? Das mach mir mein Leben lang zu schaffen. Deshalb schaffe ich an mir.
Aber dass Gott seinen Sohn für uns opfern musste, damit er seine Wut auf uns aufgeben konnte und die Bahn seiner Gnade und Liebe die letzten Steine aus dem Weg räumte? Bitte! Das macht Gott zu einem rachesüchtigen Wesen, das sich selbst überlisten musste, um seine Liebe freizusetzen.
Ich habe von Wesen gehört, die so vorgehen. Genügt es zu fragen, wer seine Kinder opfert, was nennen wir solche? Übergriffige? Gewalttätige? Tyrannen?
Die Rechnung ist so nicht tragbar, auf Gott angewendet, den wir Gott der Liebe nennen. Also brauchen wir einen anderen Winkel, um das Leiden eines Menschen zu beleuchten, der für uns litt.
Wenn
• die Shoah,
• der Genozid, welcher in Gaza gerade stattfindet,
• das Leiden der Ukrainer während des zweiten Weltkriegs und heute,
• oder wie Europa die Seeretter im Mittelmeer daran verhindert werden, mit schiffsbrüchigen Flüchtlingen in den Häfen einzulaufen,
dann scheinen mir diese Instanzen einen gemeinsamen Nenner zu haben:
Mächtige missbrauchen ihre Macht. Punkt.
Ich will nicht fragen, was das alles Gutes mit sich bringen kann. Das kann man vielleicht später machen. Jetzt nicht, noch nicht.
Sollte etwas Gutes herauskommen, aus all diesem willkürlichem Leid, dann nur dann, wenn die Überlebenden und andere etwas daraus lernen und Wiedergutmachung versuchen. Später, wenn sie dazu imstande sind. Aus der Shoah kam ein mächtiges "Nie wieder", in der Form von Gedenkstätten, Museen, Erinnerungskultur u.s.w. Was aus Gaza und der Ukraine kommen wird, weiss ich noch nicht. Wie wir gemeinsam eine Willkommenskultur zum Leben rufen, an der wir alle profitieren, das steht noch in den Sternen geschrieben.
Eins weiss ich: das Leid, welches jetzt stattfindet dürfen wir nicht vergeuden. Ist das Leid eine Saat, die im Winter in der Erde ruht, dann ist das Leid wie Unkraut, das mit dem Weizen wächst. So haben wir die heranwachsende Pflanze zu beschützen, das ist unsere Aufgabe, damit sie gute Frucht bringt, wenn die Erntezeit kommt.
Ich komme zu einer Betrachtung des Kreuzweges, des Haupts voller Blut und Wunden und des Meers voller Liebe, die weniger fingerzeigend und schuldigsprechend ist, als die alten Formen.
Leid ist an sich Leid und nicht verwertbar.
Leid ist immer Verschwendung, unnötig.
Leid kann nichts kaufen, tut niemanden gut.
Aber Wiedergutmachung, Trost, Zuwendung, Solidarität, Mitleid, Empathie und Versöhnung: Da sind die Momente, wo ich, wo wir trotz des Leides wachsen, lernen und stärker werden können.
Zum Beispiel, wenn ich mir die Geschichte einer Geflüchteten aus Gaza über Land- oder Seeweg oder aus Mariupol zuhöre und mir erlaube, mit ihr zu weinen.
Wenn ich einer Afganerin höre, die sagt, "ich musste weg von den Talibanen … da hat es nichts für mich gegeben ausser immer weniger zu werden", habe ich den Schmerz auszuhalten, die ihre Geschichte mir bereitet.
Wenn ich auf das Kreuz sehe, und alles was es bedeutet: Schmerzen, Willkür, Brutalität, Erniedrigung und nach langer Tortur ein schmerzensvoller Tod; wenn ich darauf schaue, erkenne ich:
Selbst Gottes Sohn kann sich dem Geist dieser Welt nicht stellen und ungeschoren davonkommen. Selbst Gottes Sohn ist machtlos, angesichts unserer gemeinsamen Macht, unserer gemeinsamen Habgier, unseren politischen Kämpfen, unserer Neigung, andere Menschen auszugrenzen und das eigene Häggli mit allen Mitteln zu verteidigen. Gottes Sohn, genau wie jeder Held der Vergangenheit, ist dem Tode geweiht, sofern er Einzelkämpfer oder Speerspitze bleibt, die abbricht oder das Martyrium findet. Daran muss ich denken, wenn ich den Kreuzweg ansehe oder gehe.
Nicht jede oder jeder hält das aus, sich im Spiegel des Leidens eines Menschen anzusehen. Nicht jede oder jeder ist bereit, sich seinen oder ihren Dämonen zu stellen (warum eine Psychoanalyse viele Jahre und 300 Franken pro Stunde zwei bis drei Mal pro Woche kostet). Wer sich nicht sich selbst stellen will, behält seinen oder ihren Panzer an und hält die Waffen bereit, um sich vor der Wahrheit zu wehren.
Bin ich bereit in Jesu Christi Leiden das Leiden aller Menschen und aller Natur zu sehen? Bin ich bereit, meinen Platz auf dem Bild im Kreuzweg einzunehmen? Wenn ja, dann folgt:
Ich möchte in der Kirche, als von Gott geliebter Mensch unter Menschen handeln:
Gegen Leid. Gegen Ausbeutung. Gegen Hunger. Gegen Missbrauch. Gegen Rassismus. Gegen Unterdrückung.
Für Frauen, die sich unsicher fühlen angesichts häuslicher Gewalt. Für Kinder, die gemobbt und kleingehalten werden von anderen Kindern oder gar ihren Eltern oder Lehrern. Für Ausgegrenzte, die gegen bürokratische Mauern laufen und aufgegeben haben. Für Flüchtlinge und Schutzsuchende, die auf Respekt ihrer Menschenwürde warten und alles hinterlassen haben, um dies hier zu bekommen.
Ich möchte auf Jesu Christi Seite stehen, wenn er sagt:
Kommet zu mir ALLE … ich will eure Lasten mit euch tragen. Kommt, glaubt an mich und ich mache euch zu meiner Familie. In meines Vater Haus ist Platz für alle. Selbst die Verlorenen, selbst die Kranken, selbst all die, die nichts wert in den Augen anderer sind, alle haben hier Platz. Alle bedeutet alle.
Ich glaube ich sehe, was übrig bleibt - wenn das Meer des Leides einmal verdampft ist: Dann wird offenbar, wer den langen Atem hatte, was Bestand hatte. Solange Gott ein liebender Gott ist, ohne wenn, ohne aber, ohne Tricks, ohne krampfhafte Theologie:
Dann bleibt Hoffnung - wo sich Menschen füreinander engagieren
Dann wächst Glaube - wo wir einander in Schutz nehmen und zu einander stehen
Dann lernen wir zu Lieben - wie auch Gott uns liebt. Zuerst uns selbst, dann auch unsere Nächsten.
Ich ziehe zusammen, was mir klar wurde, als ich diese Predigt schrieb:
Leben ist Risiko.
Unter Schmerzen wurden wir geboren.
Niemanden wird gespart, einmal zu leiden.
Ob ich, du - oder Gott,
ungeschoren kommen wir da nicht raus.
Diese Gedanken stärken mich:
Ich wurde ins Leben geliebt
Ich werde aus dem Leben geliebt.
Ich möchte diese Liebe weitergeben.
Und du, was gibt dir Kraft?
Predigt am 17. März 2024 in der Christkatholischen Kirche in Solothurn.